Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines am 14.11.1998 gehaltenen Vortrags im Rahmen der 14. Jahrestagung des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung. Ich danke allen TeilnehmerInnen für die fruchtbare Diskussion in Anschluß an den Vortrag. Proceedings: P. Bittner, J. Woinowski Hrsg.: Mensch - Informatisierung - Gesellschaft. Münster 1999, Kritische Informatik Bd. 1,  
S. 1-19.  
 

 
 

ICH BIN EIN WELTBÜRGER AUS SINOPE 

VERNETZUNG ALS LEBENSKUNST

 
Rafael Capurro
  
 
 
 

Inhalt

1. Einleitung  
2. Was ist ein Netz  
3. Vernetzung als Lebenskunst  
Schluß  

Literatur und Links

 
 
  
 
Kurzfassung 

Die Konturen einer vernetzten Weltgesellschaft zeichnen sich allmählich ab. Der Ausdruck "Glokalisierung" (U. Beck) deutet auf einen Zustand der Durchdringung zwischen dem Globalen und dem Lokalen hin. Die Netzmetapher hat heute vorwiegend positive Konnotationen. Sie löst als Leitmetapher für die Deutung des Menschseins die moderne Metapher des Motors ab. Wie gestaltet sich menschliches Leben in einer vernetzten Welt? In Anschluß an Sherry Turkle und Esther Dyson und aus der Sicht der postmodernen Kritik am Programm der Aufklärung deute ich die entstehende Cyberkultur als eine dezentrierte, fließende Kultur. 

Die globale Vernetzung bietet keinen letzten metaphysischen Halt für die Lebensführung, sondern sie spiegelt die Gratuität der Welt wieder. Sich in der Weise des Vernetztseins zu gestalten bedeutet eine andere Form des Selbst- und Mitseins als die des modernen Individualismus. Wir mutieren von Deutern zu Boten. Ich sehe die digitalisierte und vernetzte Weltgesellschaft vom Phänomen der Botschaft (messages) geprägt. Die Cyberkultur stellt eine generalisierte und desakralisierte Botschaftskultur dar.  

 
 
      
      

1. Einleitung

    In seinem 1993 erschienenen Buch Informationstechnologie und Gesellschaft schreibt Wilhelm Steinmüller:  
      
      "Was informatisierte Gesellschaft bedeutet, ist in seinem negativen Aspekt unter der Überschrift der Großtechnologie und des Sicherheitsstaates abgehandelt worden. – In seinem positiven Aspekt  sind konkrete Utopien (...) erst neuerdings bekannt geworden. Informatik-nahe Entwüfe dagegen fehlen oder verbleiben im unverbindlich-wertkonservativ Prophetischen."  
       
    Und er fügt hinzu:  
       "Die Skala geht von der "informierten" (Ludwig Erhardt, Haefner 80) über die "maßlos informierte" (Steinbuch 78) bis hin zur "human computerisierten" (Haefner 84b) "Informations-"Gesellschaft"." [29, 556 u. 809]  
     
    Steinmüller verweist anschließend auf eine "konviviale" – dieser Ausdruck stammt bekanntlich von Ivan Illich – Informationstechnologie-Gestaltung. Die Grenzen dieses Ansatzes sind inzwischen bekannt: Steinmüller geht von Staat und Gesellschaft und deren Gestaltungs- und Regulierungsinstrumenten aus. Wir haben aber inzwischen mit der Globalisierung zu tun.   

    Die informatisierte Gesellschaft ist die vernetzte Weltgesellschaft. Steinmüller wagte 1993 die folgende Prognose:   
      

    "Man kann davon ausgehen, daß die Tendenz zur Vernetzung Ende der 90er Jahre zu einem weltumfassenden Daten- und Kommunikationsverbund mit zahlreichen lokalen, nationalen,   europäischen und internationalen Netzen für Wirtschaft, Staat und vor   
    allem den wachsenden intermediären Bereich (der Verbände, Parteien und der Reproduktion) führt. Durch Industriefertigung und Computerpower aus zentralisierten   
    oder verteilten Großrechenzentren wird programmierte "Kommunikation" zur Regel, zwischenmenschliche Kommunikation immer mehr zur Ausnahme. Wirklich nutzen können diese mächtigen Instrumente allerdings nur Konzerne und  
    Großforschungsanlagen – genauer all diejenigen, die aufgrund finanzieller oder anderer Machtressourcen dazu ausgestattet sind." [29, 321-322]  
     
    Neben den Netzen für Materie und Energie sah Steinmüller einen dritten historischen Netztyp entstehen, nämlich das Datennetz. Inzwischen wissen wir, daß die Nutzer dieses Netzes nicht bloß Konzerne und Großforschungsanlagen sind. Wir wissen auch, daß die Gegenüberstellung: programmierte "Kommunikation" vs. zwischenmenschliche Kommunikation schon für die heutige Weltvernetzung nicht zutrifft. Die von Steinmüller benutzte Metapher der "Fabrik für intellektuelle Arbeit" [29, 275] ist zu eng, um damit die  Weltvernetzung zu kennzeichnen. Denn diese stellt keineswegs alle  intellektuellen Dimensionen des Menschen in Dienst der Arbeit und sie betrifft auch nicht nur den menschlichen Intellekt.    

    Es ist sicherlich noch zu früh, um Bilanz zu ziehen bezüglich der Frage was es heißt Menschsein in einer informatisierten Weltgesellschaft. Der Ausdruck Weltgesellschaft suggeriert eine Einheit, bei der alle Unterschiede nivelliert  sind. In Wahrheit aber bringt das noch sehr junge Phänomen der Globalisierung auf der Basis der Weltvernetzung keine Angleichung aller kulturellen Unterschiede, sondern – wie Ulrich Beck im Vorwort des Buches Perspektiven der Weltgesellschaft betont [1, 7ff] – eine Vermischung oder Hybridisierung. Dies macht für Beck den Unterschied zwischen Globalisierung und Globalismus aus [2]. Das heißt wiederum nicht, daß das Internet automatisch ein menschliches Weltbewußtsein bewirken könnte.    

    Pointiert schreibt Beck:  
      

    "Digitales Denken, Computer-Spiele und ein Internet-Anschluß erzeugen noch keinen Weltbürger. Das Gegenteil ist wahrscheinlich: Alle bauen ihr eigenes Schneckenhaus-Leben – in der Hoffnung, der Taifun der Globalisierung möge sie verschonen und nur die Grundlagen und Gewißheiten, auf denen der Nachbar sein Haus errichtet hat, durch die   Luft wirbeln." [1, 10]  
     
    Wir sollten dabei bedenken, daß die Globalisierung als ein informationstechnisches Phänomen zwar neu ist, aber die Einsicht, daß wir in einer gemeinsamen Welt oder Sphäre (lat. globus) oder in einem kosmos (griech.  Ordnung) leben, bis auf das frühe Griechentum zurückgeht. Gefragt nach seinem Heimatort, antwortete der Kyniker Diogenes:  
       "Ich bin ein Weltbürger" (kosmopolítes) [4].  
     
    Die zu erwartende Antwort wäre natürlich 'aus Sinope' gewesen. Mit dieser Antwort hätte aber Diogenes seine provinzielle Herkunft in der Weltstadt Athen offenbart. Der Ausdruck ‚Weltbürger‘ (franz. cosmopolite, engl. citizen of the world) gehört zum Programm der Aufklärung. Der Gegensatz zwischen Weltbürgertum und Nationalstaat prägte die politische Geschichte Europas in den letzten dreihundert Jahren [21]. Roland Robertson hat den Begriff der Glokalisierung geprägt, um die Durchdringung des Globalen und Lokalen oder des Kosmopoliten und des Lokalisten auszudrücken. Die heutige Diskussion ist von der Wahrnehmung der teilweise subtilen Verbindungen zwischen Universalisten und Partikularisten geprägt [25]. Entscheidend ist dabei, daß es sehr unterschiedliche Ausprägungen der kulturellen Hybridbildung geben kann. Die japanischen Erfahrungen mit der Einverleibung der europäischen Moderne, auf die sich Robertson bezieht, sind insofern besonders interessant, weil sie die Möglichkeit einer eigentümlichen japanischen oder, allgemeiner ausgedrückt, einer nicht-europäischen Moderne vor Augen führen [34, 295]. Mit anderen Worten, Modernisierung und Technisierung ist nicht gleich Verwestlichung, Homogenisierung und  Herrschaft der westlichen technischen Zivilisation. Es gibt weder die europäische Moderne noch das Projekt der Moderne. Von den Erfahrungen    der Glokalisierung aus gesehen kann die Antwort des Diogenes anders ausfallen, nämlich: ‚Ich bin ein Weltbürger - aus Sinope‘.   

    Jürgen Habermas hat in einem Beitrag mit dem Titel Kants Idee des Ewigen Friedens. Aus dem historischen Abstand von 200 Jahren auf die veränderten Bedingungen hingewiesen, die Kants Auffassung vom Weltbürgerrecht   zugrunde liegen. Kant traute im Hinblick auf den Weltfrieden drei Tendenzen, nämlich der republikanischen Regierungsart, der Kraft des Welthandels und der Funktion der politischen Öffentlichkeit. Er konnte aber nicht im voraus erkennen, daß Republiken sich zu nationalistischen Staaten entwickeln würden, wo die Menschen nur als Maschinen gebraucht wurden. Der freie Handelsgeist  mündete in die kapitalistische Ausbeutung, in Imperialismus und Bürgerkrieg. Schließlich rechnete Kant "natürlich noch mit der Transparenz einer überschaubaren, literarisch geprägten, Argumenten zugänglichen Öffentlichkeit, die vom Publikum einer vergleichsweise kleinen Schicht gebildeter Bürger getragen wird." Dabei konnte er nicht voraussehen:  
      

    "den Strukturwandel dieser bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer von elektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch degenierten  (sic! degenerierten? RC), von Bildern und virtuellen Realitäten besetzten Öffentlichkeit; er konnte nicht ahnen, daß dieses Milieu einer "sprechenden" Aufklärung sowohl für eine sprachlose Indoktrination wie für eine Täuschung mit der Sprache umfunktioniert werden würde."  
     
    Immerhin fügt Habermas diesen kulturkritischen Äußerungen folgendes hinzu:  
       "Diese Weltöffentlichkeit zeichnet sich heute, in der Folge globaler Kommunikation, ab" [18, 11].  
     
    Kant konnte also nicht mit der vernetzten Weltgesellschaft rechnen, auch wenn er die "durchaus hellsichtige Antizipation einer weltweiten Öffentlichkeit" hatte (ibid.) [7] [8]. Hinzu kommt, dass das Internet weder ein bloßes Massenmedium mit einer hierarchischen One-to-Many-Struktur noch ein bloßes Individualmedium ist. Das Internet ist das Netz der Netze. Was ist aber ein Netz?    
     

2. Was ist ein Netz?

    Der Topos des Netzes ist philosophisch und kulturgeschichtlich ein ergiebiges, bisher aber wenig ausgeschöpftes Thema. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm belehrt uns über Bedeutung und Gebrauch dieses Wortes folgendermaßen:   
       "I. ein aus weiten maschen bestehendes gestrick (...)   
    II. das gewebe der spinnen (der netzspinnen), womit sie fliegen u. dgl. fangen (...)   
    III. ein netzartiges, wie ein netz ausgebreitetes oder umschlieszendes gebilde (...)   
    IV. ein webernest (...)   
    V. ein netze oder garnstern (...)   
    VI. der gelbe gitterfalter" [17, 635ff]  
     
    wobei öfter von den netzen des weibes oder von liebesnetzen die Rede ist! Fangnetze, vor allem zum Fisch- und Vogelfang, stellen die häufigsten Beispiele des klassischen Wortgebrauchs dar, angefangen mit den biblischen Szenen:  
       "Alsbald verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach" (Matth. 4, 20)    
     
    und dem Rat des auferstandenen und hungrigen Jesu am See Genezareth:    
        "Werfet das Netz zur Rechten des Schiffs, so werdet ihr finden"     
    (Joh. 21, 6).  
     
    Netze, Fischernetze zumal, dienen also zum Lebensunterhalt, zugleich aber   kann sich der Mensch in Netzen verstricken und selbst zur Beute werden. Als Odysseus die Freier tötete, lagen sie auf dem Boden    
       "wie Fische, welche die Fischer/aus dem bläulichen Meer ans hohle Felsengestade/im vielmaschigen Netz aufgezogen" (Od. 24, 386).  
     
    Am Schluß von Aischylos‘ Der gefesselte Prometheus warnt Hermes davor, ein göttliches Geschick für die Folgen unserer Unbesonnenheit verantwortlich zu machen:   
       "denn wissentlich seid,/nicht eilig verlockt, nicht heimlich umgarnt,/ins unendliche Netz des Verhängnisses jetzt/ihr verstrickt durch eure Verblendung!" (Prom. 1078).  
     
    Netze sind also, so können wir ihre antike und über Jahrhunderte gebräuchliche Bedeutung zusammenfassen, ambivalent: Zum einen lebensdienlich, zum anderen umschlingend und tödlich. Die Spinnkunst ist, neben der Töpfermetapher, die klassische Leitmetapher für menschliches Denken und Handeln. Die Spinnenmetapher, so Ekkehard Martens, ist  
       "in sich vielschichtig, als Spinnen aus dem Bauch, mit der Hand und mit dem Kopf,   
    und verweist auf ambivalente Erfahrungen mit der Kreativität." [22, 10]  
     
    Die Ausdrücke: "den Faden verlieren" und "sich in den Netzen verfangen"  dürften den Alltag von SpinnerInnen wie InformatikerInnen und gewöhnliche Netizens genau beschreiben.    

    Wir verstehen heute das Wort Netz nicht mehr aus der Sicht einer Agrargesellschaft und verbinden damit, im Gegensatz zum überlieferten metaphorischen Gebrauch, meistens positive, lebensdienliche und vor allem andere technische Konnotationen als die der Fangnetze. Wir denken zum Beispiel an Straßen- und Schienennetze, an Telefonnetze und  Flugverbindungen, an Stromnetze und nicht zuletzt an das Internet. Dieses Wort hat außerdem inzwischen eine für viele Wissenschaften paradigmatische Erklärungsfunktion. Bücher wie Geist im Netz des Neurobiologen und Psychiaters Manfred Spitzer [28] oder Lebensnetz des Physikers Fritjof Capra [5] machen für ein  allgemeines Publikum verständlich und plausibel, wie etwa Bedeutungen landkartenförmig im Gehirn gespeichert werden oder wie Ökosysteme auf der Basis eines komplexen Netzwerkes von Beziehungen,   dem Lebensnetz, funktionieren. Die Grenzen der computerbezogenen Netzmetapher und die Irrwege der KI-Forschung werden zugleich paradoxerweise sichtbar. Dies hat alles handfeste Konsequenzen für unsere Lebensgestaltung. Mit Bezug auf die Plastizität unseres Gehirns schreibt Manfred Spitzer:  
      

    "Das Gehirn braucht in seiner Entwicklungsphase nicht Regeln, sondern gute Beispiele. (...) Wer täglich zwei Stunden Horror- und Gewaltfilme anschaut (oder, schlimmer noch, seine Kinder anschauen läßt), der sollte wissen, daß dies Veränderungen im Gehirn bewirkt, die entsprechendes Verhalten begünstigen und damit letztlich zu mehr Horror und Gewalt in der realen Welt beitragen. Wir sind es gewohnt, sehr auf den Input für den Magen zu achten; im Hinblick auf unser wichtigstes Organ, das Gehirn, ist uns der Gedanke an eine Diät sehr fremd." [28, 335]   
     
    Angesichts dieser positiven Konnotationen des Netzbegriffs ist kein Wunder, daß übertriebene Erwartungen in Zusammenhang mit Computernetzen sich   breit machen. Gerhard Fröhlich nennt und kritisiert drei dieser Verheißungen, nämlich die Auflösung räumlicher Ungleichheiten, den freien Fluß der Information und die Mühelosigkeit des Wissenserwerbs. Ferner weist er auf  die Grenzen  der sozialen Netz-Metaphern hin. Er schreibt:  
       "Die neuen Netzbegriffe (welche die Bedeutung des Fangnetzes weitgehend verloren haben) unterstellen Flachheit, gleich starke Fäden, gleichmäßig gestrickte Maschen, Egalität der Knoten, vermitteln zugleich auch ein Gefühl der (nicht allzu einengenden) Zusammengehörigkeit. Das Netz ist eine Metapher für (mühe-)lose, jederzeit reversible Vergesellschaftung; "Vernetzung" steht für Vergesellschaftung "light"." [15, 303]   
     
    Wir leben, so Fröhlich, teilweise in eng-, teilweise auch in weitmaschigen Netzen. Reale und virtuelle Verbindungen und, vor allem, Lücken bestimmen unser globalisiertes Leben. Wir verstehen uns nicht mehr primär, wie die Moderne es wollte, als unteilbare Individuen, sondern als Durchgang und als Boten.   

    Wir benutzen zwar die heutigen informationstechnischen Netze, als ob sie bloß Werkzeuge wären, in Wahrheit aber sind wir selbst netzartig, wobei es bei dieser Kennzeichnung offen bleibt, was das Besondere des Netzwesens Mensch [24] ausmacht. Wir sind Mit-Teilende oder In-Formierende sowie zugleich die von den Netzen her Bestimmten und In-Formierten. Wir sind die in symbolischen und technischen Gestalten Lebenden, die das Naturleben in von uns geschaffenen technischen Netzen auffangen und uns dabei selbst reformieren, deformieren und transformieren. Wir suchen auch im neuen informationstechnischen Labyrinth nach einem Ariadnefaden. Der ist aber, so Ekkehard Martens, "gerissen, hoffentlich" und er fügt hinzu:   
      

    "Wir müssen endlich damit ernstmachen, ihn weiterzuspinnen, mit dem Kopf, aus dem Bauch und mit der Hand. Dabei gilt es gelassen zu unterscheiden, was in unserer  Hand liegt und was nicht, auch, wann uns kreatives Denken und Handeln bloß als  fremde Leistung abverlangt wird und wann es eine notwendige und befriedigende Äußerung menschlichen Daseins ist." [22, 101]     

3. Vernetzung als Lebenskunst

    Vielleicht ist die Postmoderne - oder sollten wir sie lieber Cybermoderne nennen? - nicht der Schnee von gestern, sondern der Regen von morgen, der einige der von der Moderne ausgetrockneten Felder – ich meine nicht die Sumpfgebiete – wieder zum Blühen bringen könnte. In einem Beitrag für die italienische Zeitschrift Telèma mit dem Titel Es ist ein Netz ohne Mittelpunkt, aber man bekommt einen Preis: die Freiheit, bemerkt Gianni Vattimo, daß    
    die Philosophen des 19. Jahrhunderts vom Bild des Motors und der Mechanik beherrscht waren. Die Antipoden Heidegger und Adorno befürchteten dabei   den Verlust der Dimensionen von Unvorhersehbarkeit und Freiheit menschlichen Existierens. Mit dem Modell des Netzes wird aber eine neue Einstellung der Philosophie zur Technik und ihren existentiellen Auswirkungen möglich. Die Moderne ist die Zeit des Motors, des Reisens und der mechanischen Industrie. Sie gründet, philosophisch gesehen, in der Idee eines die Peripherie bewegenden Zentrums. Eine Idee, die sich kulturgeschichtlich in der Vorstellung einer Europäisierung der Welt ausdrückte. Der Ausdruck Postmoderne   bedeutet in diesem Zusammenhang die Ablösung jenes Motormodells durch die zunächst etwas vage Vorstellung eines Netzes, das eines letzten Knotens oder, wie die Philosophen sagen, einer Letztbegründung, nicht bedarf. Am   Ende dieses Jahrhunderts läßt sich mit gutem Grund behaupten, daß die Philosophie angesichts des Sichgestaltens des Netzes die Frage nach Freiheit und Geschichte überdenken muß [31].    

    Die Motor-Metapher führte dazu, daß wir unser Selbst in einem Inneren setzten, in dem sich die Außenwelt reproduzierte und als Führungsquelle fungierte.   Unser Gehirn, so der Neurophilosoph Thomas Metzinger, bringt aber lediglich eine Ich-Illusion hervor, oder sogar nicht einmal das, denn hinter dem Netzwerk unseres Gehirns verbirgt sich eigentlich Niemand, so daß wir mit Niemandem Ich-Illusion zu tun haben (Metzinger). Ich, pardon, Niemand denkt dabei an Odysseus und den Kyklopen Polyphemos: Da lachte dem Odysseus die Seele vor Freude als er merkte wie durch seine List die anderen Kyklopen dem Polyphemos nicht zur Hilfe eilten, als dieser rief: "Niemand würgt mich" (Od. IX, 400ff). Mir scheint, daß Metzinger einer sozusagen kyklopischen Täuschung erliegt, denn er bleibt trotz und auch wegen der Netzmetapher in der modernen Subjektivität in Form ihres neuronalen Substrats gefangen. Er schreibt:    
       

    "Als physische Systeme sind wir Wesen, die durch einen Schleier aus tanzender Information von sich selbst und der Welt getrennt sind." [23]  
     
    Das Gehirn, eigentlich Niemand, wird zum Selbst- und Weltkonstrukteur. Ich nenne diese Form von Konstruktivismus Zerebralismus. Die Alternative dazu   ist die ursprüngliche Vernetzung von Mensch und Welt oder das Geborenwerden und Eingebettetsein in einem gegebenen, aber veränderbaren Netz von Bedeutungs- und Verweisungszusammenhängen, welches die Grundlage aller Formen technischer Vernetzung bildet. Unser Selbst finden wir nicht in unserem Gehirn, weder als Ego noch als Niemand, sondern wir sind selbst als diejenigen, welche durch symbolische und technische Vernetzungen die uns ansprechenden Dinge in ihrem So-und-so-sein bereits im Alltag, aber ganz besonders und ausdrücklich durch wissenschaftliche Theorien entwerfen und  ihre Möglichkeiten und Zusammenhänge wie vorläufig auch immer verifizieren, falsifizieren und technisch realisieren und uns ein zugleich symbolisches und technisches Zuhause oder eine Homepage einrichten.    

    Sherry Turkle [30] und Esther Dyson [12] erzählen uns einige Geschichten, in welchen die Konturen einer Cyberkultur - unsere Erfahrungen mit Freiheit und Geschichte in einer vernetzten Weltgesellschaft - allmählich sichtbar werden. Es ist, so Turkle, nicht eine Kultur der Berechnung, sondern eine Kultur der Simulation, die sich "auf unsere Vorstellungen von Bewußtsein und Persönlichkeit, Körper und Identität, Selbst und Maschine auswirkt." [30, 10]     Es ist eine Kultur, die sich durch Attribute wie: dezentriert, fließend, nichtlinear, assoziativ und undurchsichtig von der linearen, logischen und hierarchischen Industriekultur der Moderne unterscheidet [30, 22]. Nicht die Informatiker, sondern die User sind das Subjekt dieser Kultur. Der Schwerpunkt zwischenmenschlicher Kommunikation verlagert sich, um es pointiert auszudrücken, vom face to face zum interface. Undurchsichtigkeit bedeutet zugleich Komplexität und Dezentrierung. Die Komplexität der Kommunikationstechnologie wird zum Maßstab des Menschseins, nicht umgekehrt. Die romantische Befürchtung der Inhumanität schwächt sich angesichts gelungener und gescheiterter Alltagserfahrungen der Kultur der Simulation immer mehr ab.    

    Sherry Turkle erblickt in den MUDs eine paradigmatische Form des Menschseins, deren Struktur, wie ich hinzufügen möchte, kaum etwas mit einer Kommunikationsgemeinschaft à la Apel oder Habermas zu tun hat. Es ist eine schauspielerische Gesellschaft von Masken (lat. personae), von Verstellungen und Simulationen. Was dabei zum Ausdruck kommt, ist nicht mehr und nicht weniger als ein neues Ethos oder ein Lebensstil, der der Vielfalt in uns selbst und in den anderen Rechnung tragen will und dabei Identität, Transparenz und Konsens auf der Folie von Undurchsichtigkeit, Rollenspiel und Dynamik sichtbar werden läßt. Eine multiple Persönlichkeit im pathologischen Sinne wird dann  zum Symptom einer positiv aufzufassenden Vielfalt, deren Funktionieren sich nicht mehr allein nach den modernen Maßstäben eines rationalen Diskurses  von Vernunftwesen mit einer festen personalen (nationalen, ethnischen, sprachlichen, kulturellen usw.) Identität richtet, sondern diese immer wieder als vorläufiges Ergebnis einer Symbiose erblickt. Die Massenmedien sind das Spiegel der Moderne. Allmählich kommt die Rückseite dieses Spiegels zum Vorschein - im Spiegel der Weltvernetzung.    

    Gianni Vattimo hat das von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas proklamierte Aufklärungsideal einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft kritisiert [33]. Es ist letztlich das platonische Ideal einer Gemeinschaft von Ideen oder In-Forma-tionen und einer transparenten Vernunft oder einer engelischen Gemeinschaft reiner Vernunftwesen. Die Globalisierung bringt, demgegenüber, eine Vielfalt von Gemeinschaften mit ihren partikulären Rationalitäten und eine komplexe Weltgesellschaft zum Vorschein. In Faktizität und Geltung stellt Habermas die ideale Kommunikationsgemeinschaft nicht als Ideal, sondern als eine Folie dar, "auf der das Substrat unvermeidlicher gesellschaftlicher Komplexität sichtbar wird." [19, 192]  Unvermeidlich will sagen: leider wohl, denn Habermas blickt weiterhin auf die Selbstorganisation der Gemeinschaft allein unter dem Blickpunkt diskursiver Verständigung mit dem Ziel der friedlichen Beilegung von Konflikten. Wenn er in diesem Zusammenhang von Kommunikationsmedien spricht, dann hat er die Massenmedien vor Augen, die eine abstrakte Öffentlichkeit herstellen [19, 452]. Wörtlich schreibt er:    
      

    "Mit steigender Komplexität der Massenmedien und wachsendem Kapitalaufwand geht eine Zentralisierung der wirksamen Kommunikationswege einher." [19, 455]  
     
    Obwohl er von der Öffentlichkeit als von einem "komplexen Netzwerk" spricht, das sich in einer Vielzahl von Arenen abspielt, kommt die eigentümliche   Struktur der durch die Weltvernetzung entstandenen Öffentlichkeiten in ihrer Undurchsichtigkeit, Pluralität und Mehrzweckverfassung nirgends in den Blick. Mehr noch, diese Dimensionen, die das Menschsein bereits in einem starken Maße prägen, werden durch die zugrundegelegte Folie ins Negative verdreht. Vilém Flusser unterscheidet in seiner Kommunikologie zwischen den dialogischen und den diskursiven Medien. Dialogische Medien dienen der Erzeugung von Information und sie haben, so Flusser, die Struktur von Kreisen - wie "runde Tische" oder Parlamente - oder von Netzen - wie die Post und die Telefonsysteme. Diskursive Medien dienen der Verteilung und Bewahrung von Information und sie haben eine pyramidale, baumartige oder theatralische Struktur [14]. Flusser befürchtet, daß die Amphitheaterdiskurse der Massenmedien letztlich die dialogischen Medien instrumentalisieren [14, 71]. Demgegenüber stellt das Internet eine von Flusser nicht vorgesehene  Hybridform von Dialog und Diskurs dar.   

    Vattimo erwähnt mehrmals Heideggers Auffassung des Gestells als "ein erstes, bedrängendes Aufblitzen des Ereignisses" [20, 27], und vergleicht sie mit dem von Walter Benjamin beschriebenen Schock des Kunstwerkes im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [32, 187] [32, 68ff]. Das soll bedeuten, daß gerade mitten in der vernetzten Weltgesellschaft, in der alle Bezüge zwischen Mensch und Welt in die Instrumentalisierung der digitalisierten Sprache einzugehen scheinen, wir die Möglichkeit haben, diese Totalität selbst ästhetisch zu erfahren. Mit ästhetischer Erfahrung meine ich eine Erfahrung der Befremdung, der Unbegründetheit, der Unheimlichkeit  oder des Un-zu-Hause-seins, bei der die Dinge in ihrem bloßen Da-sein erscheinen, indem sie aus dem gewöhnlichen Netz von Bedeutungs- und Verweisungszusammenhängen herausgenommen werden, so daß wir mit der nackten Tatsache ihres nicht weiter erklärbaren Daß-seins konfrontiert werden. Vattimo schreibt:  
      

    "Während die einzelnen Dinge als in einem Netz von Verweisen, von Bedeutungsvollem (jedes Ding verweist als Wirkung, als Ursache, als Instrument, als Zeichen etc. auf andere) der Welt angehören, hat die Welt als solche, in ihrer Gesamtheit, keine Verweise: sie ist unbedeutend; die Angst registriert diese Insignifikanz, die völlig unhaltbare Tatsache, daß  die Welt existiert." [33, 71-72]   
     
    In der Gestalt der Weltvernetzung zeigt sich, mit anderen Worten, die Insignifikanz oder Bedeutungslosigkeit und Gratuität der Welt, ihr Umsonstcharakter und ihr Sichgeben, selbst. Anstatt das Netz zu einem starren Sieb zu verfestigen oder es womöglich mit Erlösungsphantasien aus der Wundertüte der Evolution zu befrachten, sollten wir auf seine konkreten lebensdienlichen Funktionen achten, indem wir seine Insignifikanz nicht vergessen. Diese Erfahrungen gehören zum Kern einer Cyberkultur oder einer Lebenskunst im Informationszeitalter [10].    

    Leben in einer Cyberkultur bedeutet einmal mit Ähnlichkeiten und Verwandschaften vertraut zu sein. Diese können ganz unterschiedlich sein, wie die von Wittgenstein erwähnten Ähnlichkeiten zwischen Brettspielen, Kartenspielen, Ballspielen, Kampfspielen usw.:  
      

    "Sag nicht: "Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht "Spiele", sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. (...) Und  das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die  einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen." [35, 66]  
     
    Diese antiplatonische Ideenvernetzung zielt also nicht auf die Herausarbeitung des begrifflichen Eidos oder der Form einer einheitlichen sozusagen in-formierten oder uni-formierten Menschheitskultur, sondern sie ist eine Kultur unterschiedlicher, aber doch vernetzter Stile. Lebenskunst im Cyberspace bedeutet vor allem nicht, wie Wilhelm Schmid meint, die Frage nach der Selbstmächtigkeit des Individuums gegenüber den Machtstrukturen der vernetzten Weltgesellschaft zu stellen, so daß der Einzelne in einer "Fundamentalwahl" entscheiden kann, ob er überhaupt ein Leben in der medialen Vernetzung leben will oder nicht [26, 208]. Eine solche Fundamentalwahl ist zwar möglich und als Selbstwahl legitim, aber sie wirkt reaktiv und nicht selten reaktionär, wenn sie sich auf die Bedingungen bezieht, unter denen sie selbst steht. Sie trivialisiert und instrumentalisiert dabei diese Bedingungen zu einem Gegenstand der Wahl und überhöht nach dem Muster  der Moderne die Wahlfreiheit des Individuums. Die "gelassene Führung im kybernetischen Raum" [26, 137] ist das Ergebnis eines Sicheinlassens auf eine neue Erfahrung des Selbst- und Mitseins im Horizont der digitalen Vernetzung, ohne die Rückendeckung des modernen autonomen Individuums. Auch die entgegengesetzte Vorstellung einer angeblichen Mächtigkeit des Subjekts gegenüber dem Netz übersieht die eigentliche Herausforderung, die darin besteht, nicht aus dem Netz auszusteigen oder sich ihm auszuliefern, sondern sich als Vernetztsein zu verstehen, indem die räumliche und zeitliche Weite des gemeinschaftlichen Existierens im Horizont der digitalen Weltvernetzung erfahren und ausgeübt wird. Das bedeutet in der Tat eine konkrete Seinsbestimmung der Offenheit menschlichen Selbst- und Mitseins.  

    Einiges deutet darauf hin, daß allmählich eine Kultur entsteht, die den durch die Buchkultur hervorgebrachten Umwälzungen nicht nachsteht. So wird heute zum Beispiel der freie Zugang zum Netz (freedom of access) mit demselben Eifer proklamiert und verteidigt, wie früher die Pressefreiheit oder die Redefreiheit. Die globale Vernetzung ist die Art und Weise, wie wir heute jene Totalität erfahren, die die Metaphysik das Seiende im Ganzen nannte. Unseren Zugang   zur Realität bezeichne ich in Abwandlung des Satzes von Berkeley: "Das Sein der Dinge sei ihr Wahrgenommensein" ("Their esse is percipi") [3, 62] mit dem  Satz: esse est computari. Das bedeutet keineswegs, alles sei bloß virtuell, sondern es bedeutet, daß wir meinen, etwas in seinem Sein erklärt und verstanden zu haben, wenn wir es digitalisieren. Wir leben, mit anderen Worten, im Horizont einer digitalen Ontologie. Die sogenannte Virtualität ist bereits   
    auf massive Weise unsere Alltagsrealität. Der vielleicht radikalste Wandel, den wir zur Zeit erleben, ist, neben dem Wandel unseres Verhältnisses zur Sprache, der Wandel unseres Im-Raum- und In-der-Zeit-seins. Wo sind wir, wenn wir im Netz sind? Wir sind zwar hier und jetzt, in Sinope zum Beispiel, aber wir lösen mit unserem digitalen und symbolischen Handeln eine Wirkung dann und dort, irgendwo in der Welt, aus. In diesem informationellen Wirkungszusammenhang gilt: actio non est reactio [13]. Und ferner: die symbolische Fernwirkung oder actio digitalis in distans dieses digitalen Handelns überschreitet von Anfang an die Grenzen des physikalischen Mediums. Das Schlagwort von der Globalisierung steht für die konkreten Folgen dieser veränderten Möglichkeiten unseres In-der-Welt-seins in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.    

    Gegen die These esse est computari lassen sich folgende Einwände vorbringen:   
    1) Wenn diese These stimmt, dann bedeutet dies eine Überbietung und keine Überwindung der Moderne;   
    2) Die These gilt nicht, wie wir spätestens seit Gödel wissen;   
    3) Die These gibt den Stand der Diskussion in der Informatik in den 70er Jahren wieder.   

    Inzwischen hat die Informatik diese These hinter sich gebracht, etwa zugunsten der Auffassung, daß das Sein das Gestaltet-sein ist.   

    Dazu möchte ich folgendes sagen. Ich bin selbst kein Vertreter oder Verteidiger dieser These. Ich meine, daß sie zwar eine mögliche Antwort auf die Frage:  Was bedeutet ‚Sein‘? darstellt, ohne aber diese Frage selbst zu thematisieren. Ich meine aber auch, daß sie nicht nur eine weit verbreitete These ist, sondern, mehr noch, daß sie den ontologischen Glauben unserer    
    Zeit wiedergibt, vergleichbar zum Beispiel dem Materialismus im 19. Jahrhundert. Ich halte  diese These zugleich für eine Überbietung und eine Überwindung - es wäre besser hier, in Anschluß an Heidegger und Vattimo von Verwindung zu  sprechen - der Moderne. Sie ist eine Überbietung der Moderne, weil sie die Berechenbarkeit des Seins technisch dingfest macht. Und sie ist zugleich eine Überwindung oder Verwindung der Moderne, weil sie die technische Berechnung nur auf der Basis eines Auswahlprozesses durchführen kann. Was daraus hervorgegangen ist, ist kein Weltkalkül, sondern eine Weltvernetzung mit den oben angedeuteten Zügen von Dezentralisierung, Nichtlinearität, Undurchsichtigkeit und, paradoxerweise, Unberechenbarkeit. Letzteres liegt nicht nur darin begründet, daß keine Technik absolute Sicherheit bieten kann, sondern auch darin, daß die Weltvernetzung ein ‚flüssiges‘ oder unbeständiges Medium darstellt, in dem sich unsere eigene menschliche Unbeständigkeit widerspiegelt. Das Netz ist  trotz oder gerade aufgrund der prekären Behausung in Form von Homepages, ein un-heimliches Medium. Damit wäre auch eine hinweisende Antwort auf den zweiten Einwand gegeben.    

    Den dritten Einwand könnte man wie folgt ins Lateinische übersetzen: esse est informari. Denn das lateinische Wort informatio, von dem sich unser Begriff Information ableitet, ist eine Übersetzung der bedeutungsschweren  griechischen Begriffe idea, eidos, morphe und typos, die allesamt mit dem Vorgang des Gestaltens oder Formgebens im materiellen und/oder geistigen Sinne zu tun haben [11]. Sein als idea ist die Grundeinsicht der platonischen Metaphysik. Auch wenn wir dies heute nicht auf der Grundlage der geistigen, sondern der technischen Software tun, dann bedeutet diese These (esse est informari) eine Wiederholung im Sinne einer Erwiderung griechischer Metaphysik. Mit anderen Worten, der Einwand will über die neuzeitliche Berechenbarkeit hinaus, indem er auf ihre vorausgehende metaphysische Grundlage zurückgreift. Ich meine, daß wir nur dann zu einem gelassenen Abstand gegenüber der Moderne oder zu einer Verwindung der Moderne gelangen können, wenn wir die Seinsfrage als Seinsfrage offenlassen und wachhalten. Der Ausdruck Cybermoderne will diese Spannung zwischen Überbietung und Überwindung der Moderne festhalten.   

    Die Schrift und insbesondere die Buchkultur hatte uns zu Textdeutern mutiert. Die vornehmste Aufgabe unseres (westlichen) Menschseins wurde aus dieser Sicht und in Anlehnung an die Deutungskunst des griechischen Gottes Hermes Hermeneutik genannt. Hans-Georg Gadamer veredelte dann die Texthermeneutik zu einer philosophischen. Im Artikel Hermeneutik des Historischen Wörterbuchs der Philosophie schreibt er:  
      

    "Hermeneutik ist die Kunst des hermeneuein, d.h. des Verkündens, Dolmetschens, Erklärens und Auslegens, "Hermes" hieß der Götterbote, der die Botschaften der   
    Götter den Sterblichen ausrichtet." [16, 1061]   
     
    Ich meine, daß die Hermeneutik uns nur sozusagen die Hälfte der Geschichte erzählt. Denn um etwas zu deuten, muß das, was zu deuten ist, erst mitgeteilt worden sein. Das Verkünden ist die zuerst genannte Aufgabe des Götterboten, die aber von der Hermeneutik nicht wahrgenommen werden kann, weil sie sie voraussetzt. In Ableitung des griechischen Wortes angelia (Botschaft) spreche ich in diesem Zusammenhang von einer Angeletik oder einer (philosophischen) Theorie der Botschaft, bei der es um die angeletische Bestimmung unseres Menschseins geht [9]. Meine These ist nun, daß wir uns auf der Grundlage der digitalisierten Weltvernetzung als digitale Boten verstehen und unser Leben dementsprechend gestalten. Eine empirische Erörterung dieser These dürfte  bei den Massenmedien beginnen und über Fax, Telefon, Handy und E-Mail zu den verschiedenen Vernetzungsstrukturen (one to many, many to many, many to one) im Internet führen. Peter Sloterdijk bezeichnet unsere Weltsituation als die "Epoche der leeren Engel",   
       "wo alle Botschafter sein wollen, aber niemand sich darum bemüht, eine Botschaft zu empfangen." [27, 75]  
     
    Der anthropologische Wandel unserer Zeit beruht nicht nur auf der Erfindung   der neuen Medien, sondern auf dem Bewußtsein, daß wir deshalb Medien erfinden, weil wir selbst Medien und Boten sind. Während wir in früheren Epochen durch unterschiedliche Arten von heiligen frohen Botschaften (euangelion) bestimmt waren, leiden wir jetzt unter einer Desakralisierung und Entleerung, oder einem "Dysangelium" (Sloterdijk nach Nietzsche: Der Antichrist, Ullstein, Bd. 3, S. 646). Wenn wir aber an die zum Teil katastrophalen kulturellen Auswirkungen von sakralen oder dogmatisierten Botschaften zum Beispiel in der europäischen Kolonialzeit denken, ist dies eine heilsame Entwicklung. Die Kehrseite davon ist freilich eine maßlose quantitative Steigerung von Boten und Botschaften aller Art, die teilweise, wie im Falle der Massenmedien, das Erbe der sakralen und hierarchischen One-to-many-Struktur antreten.    
      

Schluß

    Der Sinn von Bote und Botschaft verändert sich entsprechend dem jeweiligen geschichtlichen Kontext. Er ist in einer mythischen Kultur anders als im philosophischen Kontext der sokratischen Gesprächstechnik. Er verändert sich durch das Christentum mit seinem missionarischen Auftrag. Aufklärung und Buchkultur verbreiten das Ideal der Zensurfreiheit. Im Horizont der digitalen Weltvernetzung erreichen Boten und Botschaft ein Maximum an Universalität   und Gleichzeitigkeit [7].   

    Wer sind wir, wenn wir im Cyberspace sind? Esther Dyson teilt uns ihre Erfahrung folgendermaßen mit:  
      

    "Alle diese Botschaften sind der Preis dafür, daß ich ziemlich berühmt geworden bin: Jetzt können mir Fremde anonym schreiben und meine Ruhe stören. Ich könnte sie herausfiltern und E-Mail nur von Menschen entgegennehmen, die ich kenne; doch das wäre lächerlich. In Zukunft werde ich wohl noch exponierter sein und noch mehr E-Mail bekommen: hilfreiche und erhellende Sendungen ebenso wie völlig belanglose und solche, die mich verletzen sollen. Das ist der Preis, den ich zu zahlen habe, und   
    das wird mir immer klarer. Und doch habe ich die Wahl." [12, 328]  
     
    Wer sind wir, wenn wir im Cyberspace sind? Offenbar sind wir diejenigen, die  wir uns selbst im Medium der digitalen Weltvernetzung exponieren, will sagen Botschaften aller Art "urbi et orbi", für Sinope und die Welt, senden und empfangen. Im Gegensatz zu den Expositionen der Massenmedien stellen wir uns selbst als Boten her und aus.    

    Die Cyberkultur ist eine Boten- und Botschaftskultur. Wer sind wir, wenn wir im Netz sind? Wir sind Weltboten aus Sinope.  
     

Literatur

    1. Beck, U. Hrsg.: Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a. M. 1998   

    2. Beck, U.: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt a. M. 1997.   

    3. Berkeley, G.: The Principles of Human Knowledge. In: ders.: Philosophical Writings. London 1965.   

    4. Busch, H.J., Horstmann, A.: Stichworte: Kosmopolit, Kosmopolitismus (1.). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stuttgart 1976, Bd. 4, Sp. 1155-1558.   

    5. Capra, F.: Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen Welt, Darmstadt 1996.   

    6. Capurro, R.: Das Internet und die Grenzen der Ethik. Eine neue Informationsethik stellt sich den Ergebnissen der Medienwirkungsforschung. In: M. Rath (Hrsg.): Medienwirkungsforschung und Medienethik (1999) (i.Dr.)   

    7. Capurro, R.: On the Genealogy of Information. In: K. Kornwachs, K. Jacoby Eds.: Information. New Questions to a Multidisciplinary Concept, Berlin 1996a,    
    S. 259-270.   

    8. Capurro, R.: Informationsethik nach Kant und Habermas. In: A. Schramm, Hrsg.: Philosophie in Österreich, Wien 1996b, S. 307-310.   

    9. Capurro, R.: Hermeneutik im Vorblick.    

    10. Capurro, R.: Leben im Informationszeitalter, Berlin 1995.   

    11. Capurro, R.: Information. Ein Beitrag zur etymologischen und ideengeschichtlichen Begründung des Informationsbegriffs, München u.a. 1978.   

    12. Dyson, E.: Release 2.0. Die Internet-Gesellschaft, München 1997.   

    13. Fleissner, P.: Actio non est Reactio (1995). http://www.jrc.es/~fleissne/actio_non_est_reactio.html   

    14. Flusser, V.: Kommunikologie, Mannheim 1996.   

    15. Fröhlich, G.: Netz-Euphorien. Zur Kritik digitaler und sozialer Netz(werk)metaphern. In: Schramm, A. Hrsg.: Philosophie in Österreich, Wien 1996, S. 292-306.   

    16. Gadamer, H.-G.: Art. Hermeneutik. Im: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974.   

    17. Grimm Jacob, Grimm Wilhelm: Deutsches Wörterbuch (1889) Deutscher Taschenbuch Verlag 1952.   

    18. Habermas, J.: Kants Idee des Ewigen Friedens. Aus dem historischen Abstand von 200 Jahren. In: Information Philosophie, Dezember 1995, Nr. 5,     S. 5-19.   

    19. Habermas, J.: Faktizität und Geltung. Frankfurt a.M. 1998.   

    20. Heidegger, M.: Der Satz der Identität. In: ders.: Identität und Differenz, Pfullingen 1976.   

    21. Horstmann, A.: Stichworte: Kosmopolit, Kosmopolitismus (2.). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stuttgart 1976, Bd. 4, Sp. 1158-1167.   

    22. Martens, E.: Der Faden der Ariadne. Über kreatives Denken und Handeln, Stuttgart 1991.   

    23. Metzinger, Th.: Niemand sein. Kann man eine naturalistische Perspektive auf die Subjektivität des Mentalen einnehmen? (1995)   
    In: http://www.uni-giessen.de/~gm1001/texte/niemand.htm   

    24. Mussgnug, O.: Netzwesen Mensch (1999) (Diss., Univ. Karlsruhe)  

    25. Robertson, R.: Glokalisierung: Homogeneität und Heterogeneität in Raum und Zeit. In: Beck, U. Hrsg.: Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a. M. 1998, S. 192-220.   

    26. Schmid, W.: Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt a.M. 1998.   

    27. Sloterdijk, P.: Kantilenen der Zeit. Zur Entidiotisierung des Ich und zur Entgreisung Europas. In: Lettre international. Heft 36, 1.Vj./97, S. 71-77.   

    28. Spitzer, M.: Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln, Darmstadt 1996.   

    29. Steinmüller, W.: Informationstechnologie und Gesellschaft. Einführung in die Angewandte Informatik. Darmstadt 1993   

    30. Turkle, S.: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbek b. Hamburg 1998.   

    31.Vattimo, G.: È une rete senza centro ma ci dà un premio: la libertà. In: Telèma 3 (1997) S. 3-5.   

    32. Vattimo, G.: Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990.   

    33. Vattimo, G.: Die transparente Gesellschaft, Wien 1992.   

    34. Weinmayr, E.: Entstellung. Die Metaphysik im Denken Martin Heideggers. Mit einem Blick nach Japan, München 1991.   

    35. Wittgenstein, L.: Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a.M. 1984.   

  
Letzte Änderung: 10. Oktober 2002
     
     
 
   

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